Die atheistische Kritik an der Kirchenglocke
In der “Lage am Morgen” des SPIEGEL las ich vor 14 Tagen die Bemerkung des Lage-Verfassers, Kirchenglocken seien ein Anachronismus und gehörten deshalb abgeschafft. Er begründete diesen Wunsch damit, dass die Mehrheitsgesellschaft nicht mehr christlich sei und den Kirchen diese Aufforderung zum Gebet nicht mehr zustehe. Das kann man vertreten. Sollte man aber nicht. Vielmehr müssen auch erklärte Atheisten die Religionsfreiheit achten, egal, wie areligiös sie sind. Kirchenglocken gehören zu dieser Religionsausübung. Sie sind liturgischer Bestandteil des christlichen Gottesdienstes. Statt sie abzuschaffen sollten vielmehr auch Muezzinrufe zugelassen werden oder andere Ausdrucksformen von Religion in der Gesellschaft. Die Atheisten oder Agnostiker müssen das hinnehmen, da sie den Geist des Grundgesetzes, der freie Religionsausübung garantiert, auch in allen anderen Punkten zu respektieren haben. Sollten die Kirchen in absehbarer Zukunft wirklich so weit marginalisiert sein, wie es der Autor des angesprochenen Textes konstatiert, werden die betroffenen Bürgerinnen sicher auch ein Argument finden, Glockenklang zu verbieten. Aber dann auch Demonstrationen, Umzüge, Kindergartenlaternenumzüge, Musik in der Öffentlichkeit und Open-Air-Konzerte uvm. Eben alle Ausdrucksformen, denen eine Gesellschaft Toleranz und Duldsamkeit entgegenbringt, im Sinne des gemeinsamen Wunsches, eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft zu sein. So lange werden sich auch areligiöse Intellektuelle wohl mit dem Gotteslärm der Christ*innen abfinden müssen. Denn diese Toleranz ist schließlich auch der Preis dafür, dass sie entscheiden konnten, nicht an einen Gott zu glauben.
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