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Nacht | Gedanken | flucht

Nachts sich Gedanken machen über die Nachrichtenflut des Tages und unter dem einen Mond stehen, den die Erde zu bieten hat. Das war früher (in meinen 20ern und 30ern) schöner. Melancholie durfte noch genossen werden und wurde nicht von der kritischen Kopfscherenfrage “ist das villeicht scho a klaane Depression?” (die Kopfschere hat eine österreichische Stimme, Dank an die Bücher Freuds und meine österreichischen Vorfahren) unterbrochen, die ad hoc einen Handlungsdruck (Leben ändern, zu rauchen aufhören, mehr schlafen, besser essen, Sport treiben… [crescendo!] [Polyphonie!!] [Fuge!!!] gesünder leben, Beruf wechseln, auswandern usw. usw.) erzeugt, der einen mehr depressiv zu machen in der Lage ist, als diese kleine, federleichte oder federbettschwere Nachtmelancholie unter Himmel und Mond am Rand des dunklen Gartens. Zu Zeiten ohne Krieg und Kinder konnte ich noch so schön ein wenig bittersüß verliebt sein in mein lyrisches ich (lyrisch im Sinne “mein Ich als Poet” - pseudo vielleicht, aber wen kümmert’s wenn’s mein Geheimnis bleibt, dass ich von mir als Lyriker denke), und mich suhlen/baden/wiegen (wähl selber aus, wenn du denkst dass ich eh kein Lyriker bin) in dem Gefühl. Jetzt zu Zeiten von Krieg und Kindern und Frau und Beruf und ein-Erwachsener-sein ist da Angst. Angst und Melancholie vertragen sich nicht.

Melancholisch sein ist nur schön, wenn da die Gewissheit (die unbegründete, aber vorhandene) im Hintergrund wacht (ihre Hand auf meiner Schulter), dass es auch wieder gut wird, besser zumindest. Zumindest so gut wie nach einem “Heile heile Segen von der Mama”, wo das Knie zwar immer noch offen ist, aber verarztet und sicher und mit dem Heilsversprechen der Kindheit versehen, dass es “schon wieder gut” wird. Wenn da die begründete Angst ist, dass nichts mehr gut wird, die keine Angst ist (denn die beinhaltet ja die Möglichkeit des Nichteintreffens der ängstigenden Zukunftsmöglichkeit), sondern eher schon eine trockene Gewissheit. (2,5 Grad oder mehr, ich werde wahrscheinlich in weniger Zeit sterben als es her ist, dass ich geboren wurde, kurz: Restleben ≤ verlebtes Leben, plus: geliebte Menschen werden noch viel früher gehen, juhu, wie fein). Wenn das so ist, wirkt Melancholie so kitschig, dass die “schönste” Hochzeit nichts dagegen ist. Da wird es dann peinlich, melancholisch zu sein.

Aber eine Depression wäre zwar genehmigungspflichtig (durch Symptomlisten aus dem ICD-10, vorzugsweise durch Arzt oder Therapeuten, ein paar kundige Mitmenschen tun’s zur Not aber auch), aber nicht kitschig. Weil sie so gar nichts plüschiges, weiches, betrunken schweres hat. Füße in Beton statt umwölktem Schädel. Zementschwere statt Suffschwere, Torkeln und stolpern und fallen ohne jede Sommerwärme, Grasweiche und leichte Nachtluft unter hellem Mond. Nur ein Tieferfallen und die Zimmerdecke fällt mit. Und jeden Tag in einem Keller aufwachen und es nicht die vier Stockwerke bis ins Souterrain schaffen, wo schon ein wenig Licht ist vom Morgenhimmel. Doch auch die Depression will nicht so recht gelingen, seit Krieg und Kindern und Frau und Arbeit (Krieg und Kinder, Frau und Arbeit - auf die Melodie des Deutschlandlieds zu singen) machen, dass auch das untersagt ist. Weil das Durchhalteprogramm aktiviert wurde (das ist die Schaltfläche, wo das Handy in den Energiesparmodus geht und ich keine Veränderung feststelle und mich frage, warum das schlaue Ding denn nicht immer Energie spart, wenn es das so gut drauf hat - ich weiß: Performance ist alles.) Die deutsche “Performanz” hört sich gleich noch etwas härter und gnadenloser an, weil sie keine Tanzaufführung sein mag sondern eindeutig auf Leistung pocht.

Vielleicht erscheint mir deshalb das “deutsche Fernsehballett” immer so unglaublich angestrengt, weil es eine so deutsche Performanz zur Schau stellte, statt eine Performance zu bieten (Dirty-Dancing-beschwingt oder doch eher Pulp-fiction-besessen?) Drum ist wohl auch TANZ im Deutschen hart wo’s im übrigen weich ist (Dance, Danse, Danza…). Der Deutsche danced nicht, er TTanzTT. Ich schweife zu weit, aber nein: Harte Depression statt weicher Melancholie. (Das ist mal eine herbeigezwungene Assoziation - Respekt - wie lande ich jetzt wieder und kann das ganze “abbinden”???). ACH JA: Meine Melancholien waren wie eine selbstbezogene Performance. Sich im getakteten Tag eine Stunde der schweifenden Schwere gönnen, mit Pink Moon (und Wiglaf Droste), Heute Hier, Morgen dort (und Josef Hader) und danach mit der nötigen Bettschwere (und Max Gold) ins Bett fallen lassen weil die Melancholie die schweifenden Gedanken so schön in Samt gepackt hat. Die Performanz meiner Depressionen ist dagegen wirklich eine Leistung: Wieviel Leistung kann ich bringen, wenn schon das geringste Maß an Leistungserwartung einen echten Brechreiz und Überforderungsgefühle erzeugt, dazu noch größere Depression und Überforderung und Ekel aufgrund der Erkenntnis, depressiv zu sein – Es wär so fein absurd, wenn’s erfunden wäre. Aber Erfindung wäre ja Poesie. Und während meine Melancholien Gedichte und Lieder ins Blatt diktierten, schweigen mich meine Depressionen nur beleidigt an. Damit ich Schuldgefühle bekomme (weil meine Alltagsperformance von der Performanz meiner Depression gefressen wird), die ausreichen würden, mich depressiv zu stimmen. Doch zum Glück kann ich ja in einer depressiven Phase wenigstens keine depressive Verstimmung mehr bekommen. Das wäre dann zu viel Performanz.