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Immer das eine Bild

Ständig das eine Bild: Morgens. Mittags. Nachts. Totale von links hinten. Ein Mann Mitte vierzig (beginnende Glatze, fortschreitend) steht mit einem Zweijährigen an der rechten Hand am Rand einer Terrasse, hinter einem Einfamilienhaus, die Sonne scheint. Beide schauen auf den Garten, das Kind zeigt auf etwas. Wahrscheinlich einen Vogel. »Bibiep« Es zeigt etwas, wie nur kleine Kinder zeigen, mit einem Finger, der sich noch vor kurzem anstrengen musste, um sich einzeln aus der Faust zu lösen oder der Reihe der Finger, das aber - etwas krumm und mit zu viel Kraft - jetzt schon ganz gut hinbekommt. Wimpernschlag Das Kind ist weg. Der Mann steht immer noch so da. Oder wieder? Mit seiner leeren rechten Hand. In der gleichen Position wie eben noch mit dem Kind an der Hand. Doch jetzt ohne. Leere Hand. Kein Kind.

Ich habe keine besonders blutrünstige Fantasie, also hat mir mein Unterbewusstes wohl alle Splatter-Effekte für diese Szene erspart und sie ganz auf die tatsächliche, innere Drastik reduziert, die das Vorher- und Nachher-Bild in sich birgt. Das ist, ganz ohne Blut und Eingeweide, unfassbar brutal. Weil es mit Bildern des Vorstellbaren Unvorstellbares zeigt. –

An dieser Stelle reißt die Zeit. Das klingt jetzt nach Klischee. Aber das ist dem Gedanken, dem Traum ja egal. (auch wenn ihm nichts egal sein kann, so als Traum). Das Bewusstsein stellt sich ein, dass das Kind nicht mehr ist. Dass mein Kind nicht mehr ist. Es wurde getötet, vielleicht gesprengt, oder erschossen, oder gegen eine Wand geschleudert von einer Druckwelle, oder mit bloßen Händen geschlachtet von jemandem, der mal als Mensch galt, bevor ihn seine neue Aufgabe zum Monstrum gemacht hat. Oder einfach von einer Bombe in Moleküle seiner Stofflichkeit zerlegt, ausgelöscht. Von einem Monitor aus, in einem klimatisierten Raum. Far far away. 

Ich kann mir das für mein Kind nicht vorstellen, will es nicht und kann es nicht. Kann es aber eben doch. Von einem Mann oder einer Frau getötet, von einem Menschen. Weil er Soldat ist und »Feind« und weil das Kind – mein Kind – für ihn nichts bedeutet. Weil es für niemanden etwas bedeutet außer für mich, seine Mutter, seinen Bruder und ein paar weitere zufällige Menschen. Weil mein Kind einfach nur ein Promille vom Promille des Feindes ist. Und weil noch so viele Promille des Feindes zu erledigen sind und dabei mein Kind eine Aufgabe ist, die sich später nicht mehr stellt wenn man sie jetzt erledigt. Oder einfach nur ein Kollateralschaden, weil sein Kindergarten zu nah beim Polizeipräsidium steht, und irren menschlich ist, auch bei Drohneneinsätzen.  

Diese Drastik erzeugt eine Angst, die in ihrer Unermesslichkeit nicht spürbar ist. Sie müsste homöopathisch herunterverdünnt werden und wäre dann der größte Schmerz, den ich in meinem Leben bisher spüren konnte. (Und dieser Schmerz war inhaltlich lapidar: eine Zahnbehandlung.)

Sie ist jenseits der Ängste, die ich vorher kannte. Bevor ich seinen Bruder kennenlernte, und dann ihn. Vorher, das ist, bevor ich ein mittelalter Mann mit einem Kind hinter einem Haus in einem Garten war. Und einem Kind drin auf dem Sofa, vor dem Fernseher, der Youtube-Shorts zeigt, die ich beginne nicht mehr zu verstehen. Weil ich viermal so alt bin wie er. 

Eine kalte, glatte Angst. Wenn ich nachgebe, rutsche ich weg. Mein physischer Körper steht da, schwankt vielleicht – unmerklich. Doch mein gesamtes Fühlen rutscht weg. Rutscht diagonal nach rechts unten weg. Nach rechts unten. So fühlt sich das an und nicht anders. Ein inneres Sträuben gegen die Gewissheit. Doch wie beim Verliebtsein - nur in grauslig - wenn man’s sich fragt, ist es schon zu spät.

Mein in mir sein, das ich aufgegeben habe, da war ich nicht viel älter als mein größerer Sohn jetzt, ist dann ganz kurz spürbar. Wie es wegrutscht. Es wird spürbar, was sonst nicht wirklich spürbar ist, einfach nur, um wegzurutschen. Vielleicht hat sich mein Ich auch in diesem Raum eingeschlossen, den nur der Schock öffnet. Dort sitzt es auf einem Hocker, direkt hinter der Tür, und schaut den ganzen Tag durch den Spion, ob die Luft rein ist. Weil es aber so weit weg ist von allem anderen, in seinem Raum, sieht es auch nichts, was darauf hindeuten könnte, dass sich etwas geändert hat. Und wenn sich nichts geändert hat, seit es in den Raum geflohen ist, dann heißt das, dass die Gründe, warum es jetzt hier ist, immer noch da sein müssen, auch wenn es sich gar nicht mehr so genau daran erinnert, was diese Gründe waren.

Wie unendlich groß der Raum ist innerhalb der Außengrenzen meines Körpers. Wie weit ich entfernt sein kann von diesen Grenzen. Mir ist klar, dass das »therapiert gehört«. Doch der unsortierte Haufen Schlacke, der mein Gefühlsleben ausmacht - mehr Schlacke als die, die mein alter Vermieter illegal im Restmüll entsorgt hat, alle 6 Wochen, viele Jahre -, erscheint mir nicht mehr zu ordnen. Schwer, staubig und scharfkantig liegt sie in mir, füllt mich aus, drückt auf meinen Magen, die Lunge, mich.

Marie Condo würde mir jetzt dazu raten, alles wegzuwerfen, was ich nicht mehr brauche. Noch lieber aber würde sie mir Ordnungskisten andrehen. Und ich, der zu gerne kauft, würde natürlich die Ordnungskisten kaufen. Paypal, zahlen in 30 Tagen. Und dann bemerken, dass sie völlig anders aussehen als alles um sie herum. Dann würde ich sie so lange stehen lassen, bis sie zum Rest passen und gar nicht mehr auffallen. Und die Ordnung müsste wieder warten.