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Entrüstung über die eigene Mittelmäßigkeit

Was ist die gestern kolportierte Entrüstung der Opposition über die strenge Einhaltung der Tagesordnung anderes, als eine Entrüstung über die eigene - deutsche - Mittelmäßigkeit. Schließlich wurde die Tagesordnung des Deutschen Bundestages am 17. März auch von den Unionsparteien mitbeschlossen.

Eine andere Deutung wäre doch auch möglich. Im Rechtsstaat kann es eben auch passieren, dass das spießige Mittelmaß (siehe auch bei Umberto Eco: Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß) einer Tagesordnung, die versucht, lebendigen Diskurs in ein Förmchen zu pressen, eben kein Gespür hat für das Bedürfnis nach Pathos, aber eben auch die Dramaturgie demagogischer Auftritte (und damit ist jetzt bitte NICHT der Auftritt von Selenskij gemeint, sondern die vielen anderen Gelegenheiten, bei denen eine solche Tagesordnung Versuche der deutschen Politik vereiteln kann, künstliche Skandale zu choreografieren).

An diesem gestrigen Punkt der Geschichte mag das System gefühlt versagt haben, sonst aber ist es eine Errungenschaft, ein geordnet arbeitendes, verlässliches Parlament zu haben, indem weder Flibuster(USA) noch Handgemenge (Südamerika, Italien, Griechenland) zum Normalbild gehören. Ein Arbeitsparlament eben.

Das tut der Rede Selenskijs keinen Abbruch und sicher auch nicht ihrer Wirkmacht. Für diese ist es vollkommen gleichgültig, ob nach ihr eine Debatte über Steuern kommt, oder ein Werbespot (z.B. auf privaten Nachrichtenkanälen oder YouTube). Gerade im Jahr 2022 sind solche Choreografien einer Tagesordnung, wie sie die Opposition fordert vielleicht tatsächlich schon obsolet, da sich die nachrichtenwahrnehmende Öffentlichkeit daran gewöhnt hat, sequenziell aufeinander folgendes nicht mehr unbedingt aufeinander zu beziehen (TiKToK, YouTube autoplay, Facebook Timeline, Twitter…). So ist die Beschwerde auch fast so spießig wie das, über was sich da beschwert wird. Eben ein Reflex, opponieren zu müssen.

Sicher hätte auch ich mir da eine Debatte gewünscht. Aber wozu? Bewegt hätte sich da nichts und die Gefahr, wieder neue Lippenbekenntnisse zu hören wäre weit größer gewesen als die Chance, dass Selenskij etwas wirklich neues erreicht hätte.